Strom
Sie fuhren mit dem Explorer um das Hauptgebäude herum zum Kraftwerk. Unterwegs kamen sie an einem kleinen Dorf vorbei. Thorne sah am rechten Straßenrand sechs Häuschen im Plantagen-Stil und am Ende ein größeres Gebäude, offensichtlich das Wohnhaus des Managers. Es war klar, daß das Dorf früher hübsch angelegt und sorgfältig gepflegt worden war, doch jetzt waren die Gebäude überwuchert, der Dschungel beherrschte die Anlage fast völlig. In der Mitte sahen sie einen Tennisplatz, ein leeres Schwimmbecken und eine kleine Benzinpumpe vor einem Schuppen, der offensichtlich ein Gemischtwarenladen gewesen war.
»Ich frage mich, wie viele Leute sie hier wohl hatten«, sagte Thorne.
»Woher wissen Sie, daß sie alle weg sind?« fragte Eddie.
»Was soll das heißen?«
»Doc – es gibt Strom. Nach all den Jahren. Dafür muß es doch eine Erklärung geben.« Eddie fuhr an den Laderampen vorbei und auf das direkt vor ihnen liegende Kraftwerk zu.
Das Kraftwerk war ein fensterloser, unscheinbarer Betonblock, dessen auffälligstes Merkmal ein rundumlaufendes Band aus Wellblechtafeln zu Belüftungszwecken direkt unter dem Dach war. Das Wellblech war längst zu einem einheitlichen Braun mit ein paar gelben Flecken verrottet.
Eddie fuhr auf der Suche nach einer Tür um das Gebäude herum.
Er fand sie auf der Rückseite. Es war eine schwere Stahltür mit einem abblätternden Schild mit der Aufschrift: Vorsicht Hochspannung! Eintritt Verboten.
Eddie sprang aus dem Auto, die anderen folgten. Thorne schnupperte. »Schwefel«, sagte er.
»Sehr stark«, bestätigte Malcolm mit einem Nicken.
Eddie zog an der Tür. »Leute, ich habe das Gefühl …«
Plötzlich sprang die Tür mit einem lauten Krachen auf und schepperte gegen die Betonwand. Eddie spähte in die Dunkelheit im Inneren. Thorne sah ein dichtes Gewirr von Röhren, aus dem Boden waberte Dampf. Es war sehr heiß in der Halle. Ein lautes, beständiges Surren war zu hören.
»O Mann«, sagte Eddie. Er ging hinein und sah sich diverse Anzeigeinstrumente an, von denen viele nicht mehr abzulesen waren, da die Gläser mit einem gelben Film überzogen waren. Auch die Verbindungsstücke der Röhren waren mit einer gelben Kruste überzogen. Eddie wischte ein wenig von dem gelben Zeug mit dem Finger weg. »Erstaunlich«, sagte er.
»Schwefel?«
»Ja, Schwefel. Erstaunlich.« Er drehte sich zu der Quelle des Geräusches um und entdeckte einen großen, runden Lüftungsschacht mit einer Turbine im Inneren. Die Blätter der schnell rotierenden Turbine waren von einem stumpfen Gelb.
»Ist das auch Schwefel?« fragte Thorne.
»Nein«, sagte Eddie. »Das muß Gold sein. Diese Turbine besteht aus einer Goldlegierung.«
»Gold?«
»Ja. Es muß ein sehr reaktionsträges Material sein.« Er drehte sich zu Thorne um. »Ist Ihnen klar, was das hier ist? Es ist unglaublich. So kompakt und effizient. Kein Mensch ist bis jetzt darauf gekommen, wie man so was macht. Die Technologie ist –«
»Erdwärme, nicht?« fragte Malcolm.
»Genau«, sagte Eddie. »Man hat eine Hitzequelle angezapft, wahrscheinlich Gas oder Dampf, der durch die Röhren da drüben aus dem Boden kommt. Mit der Hitze wird Wasser in einem geschlossenen Kreislauf zum Kochen gebracht – in diesem Röhrengeflecht da vorne –, und damit wird die Turbine angetrieben, die den Strom erzeugt. Egal, was die Wärmequelle ist, die Korrosion ist bei solchen geothermischen Anlagen gewaltig. Die Wartung ist der reine Wahnsinn. Aber diese Anlage funktioniert immer noch. Erstaunlich.«
An einer Wand befand sich eine Steueranlage, die die Stromversorgung des gesamten Laborkomplexes regelte. Die Schalttafel war mit Schimmel überzogen und an verschiedenen Stellen eingedellt.
»Sieht aus, als wäre seit Jahren niemand mehr hiergewesen«, sagte Eddie. »Und ein großer Teil des Stromnetzes ist tot. Aber die Fabrik selbst läuft noch – erstaunlich.«
Thorne hustete in der schwefelgesättigten Luft und ging wieder ins Freie. Er sah zur Rückseite des Labors hinüber. Eine der Laderampen schien noch in gutem Zustand zu sein, die anderen waren zerstört. Das Glas an der Rückwand war zersplittert.
Malcolm trat zu ihm. »Ich frage mich, ob ein Tier gegen das Gebäude gekracht ist.«
»Glauben Sie, daß ein Tier einen solchen Schaden anrichten könnte?«
Malcolm nickte. »Einige der Dinosaurier wiegen 40 bis 50 Tonnen. Ein einziges Tier hat die Masse einer ganzen Elefantenherde. Das könnte leicht eine Beschädigung durch ein Tier sein. Sehen Sie diesen Pfad da drüben? Das ist ein Wildwechsel, der an den Laderampen vorbei- und den Hügel hinunterführt. Es könnte ein Tier gewesen sein, ja.«
»Haben sie daran nicht gedacht, als sie die Tiere freigesetzt haben?«
»Oh, ich bin mir sicher, sie hatten nur vor, sie für ein paar Wochen oder Monate freizulassen und sie wieder einzufangen, solange sie noch nicht ganz ausgewachsen waren. Ich glaube nicht, daß sie je daran gedacht haben –«
Sie wurden unterbrochen von einem elektrischen Knistern, fast wie statisches Rauschen. Es kam aus dem Explorer. Eddie, der hinter ihnen gestanden hatte, lief mit besorgter Miene zum Auto.
»Ich hab’s gewußt«, sagte Eddie. »Unser Kommunikationsmodul fängt an zu schmoren. Ich hab doch gewußt, daß wir das andere hätten nehmen sollen.« Er öffnete die Beifahrertür des Explorer, stieg ein, nahm das Mikrofon in die Hand und schaltete den Automatik-Tuner ein. Durch die Windschutzscheibe sah er, daß auch Thorne und Malcolm auf das Auto zuliefen.
Plötzlich war eine Verbindung da. »– ins Auto«, sagte eine krächzende Stimme.
»Wer spricht dort?«
»Dr. Thorne. Dr. Malcolm! Ins Auto. Schnell!«
Als Thorne den Explorer erreicht hatte, sagte Eddie: »Doc. Es ist der verdammte Junge.«
»Was?« sagte Thorne.
»Es ist Arby.«
Arby sagte über Funk: »Steigen Sie ins Auto. Ich sehe ihn kommen!«
»Wovon redet der denn?« fragte Thorne und runzelte die Stirn. »Er ist doch nicht hier, oder? Ist er auf der Insel?«
Das Funkgerät knisterte. »Ja, ich bin hier! Dr. Thorne!«
»Aber wie zum Teufel hat er –«
»Dr. Thorne! Steigen Sie ins Auto!«
Thorne wurde dunkelrot vor Wut. Er ballte die Fäuste. »Wie hat dieser kleine Mistkerl das bloß geschafft?« Er riß Eddie das Mikrofon aus der Hand. »Arby, verdammt –«
»Er kommt!«
Eddie fragte: »Wovon redet der denn? Der klingt ja total hysterisch.«
»Ich kann ihn im Fernsehen sehen! Dr. Thorne!«
Malcolm sah zum Dschungel hinüber. »Vielleicht sollten wir einsteigen«, sagte er leise.
»Was soll denn das heißen, im Fernsehen?« sagte Thorne. Er war wütend.
»Ich weiß es nicht, Doc«, erwiderte Eddie, »aber wenn er im Caravan ein Bild empfängt, sollten wir es hier auch sehen können.«
Er schaltete den Monitor am Armaturenbrett ein. Der Bildschirm wurde hell.
»Der verdammte Junge«, sagte Thorne. »Ich drehe ihm den Hals um.«
»Ich dachte, Sie mögen ihn.«
»Schon, aber –«
»Chaos am Werk«, sagte Malcolm kopfschüttelnd.
Eddie starrte den Monitor an.
»O Scheiße«, sagte er.
Der winzige Monitor am Armaturenbrett zeigte einen Blick von erhöhter Stelle auf den mächtigen Körper eines Tyrannosaurus rex, der auf dem Wildwechsel auf sie zukam. Seine Haut war von einem fleckigen rötlichen Braun, der Farbe getrockneten Bluts. Im gesprenkelten Sonnenlicht sahen sie deutlich die mächtigen Muskeln seiner Hinterläufe. Das Tier bewegte sich schnell, ohne das geringste Anzeichen von Angst oder Unschlüssigkeit.
Thorne warf nur einen kurzen Blick auf den Monitor und sagte: »Alle ins Auto.«
Die Männer stiegen hastig ein. Der Tyrannosaurier auf dem Monitor bewegte sich aus dem Blickfeld der Kamera heraus. Aber im Explorer konnten sie ihn kommen hören. Die Erde bebte, und das Auto schwankte leicht.
»Ian?« fragte Thorne. »Was sollen wir tun?«
Malcolm antwortete nicht. Er saß stocksteif da und starrte ins Leere.
»Ian?« sagte Thorne.
Das Funkgerät knisterte. Arby sagte: »Dr. Thorne, ich habe ihn auf dem Monitor verloren. Sehen Sie ihn schon?«
»O Gott«, sagte Eddie.
Mit erstaunlichem Tempo brach der Tyrannosaurier plötzlich aus dem Laubwerk rechts vom Explorer. Das Tier war riesig, so hoch wie ein zweistöckiges Gebäude, der Kopf so weit oben, daß sie ihn nicht sehen konnten. Doch für ein Tier dieser Größe bewegte es sich mit unglaublicher Geschwindigkeit und Behendigkeit. Thorne starrte es nur stumm an und wartete, was passieren würde. Er spürte, wie das Auto unter jedem donnernden Schritt erzitterte.
Eddie stöhnte leise.
Aber der Tyrannosaurier achtete nicht auf sie. Mit unvermindertem Tempo lief er an dem Explorer vorbei. Augenblicke später verschwanden Kopf und Körper links von ihnen im Dschungel. Sie sahen nur noch den kräftigen Schwanz, der in etwa zwei Meter Höhe bei jedem Schritt des Tieres balancierend hin und her schwang.
So schnell! dachte Thorne. Schnell! Das riesige Tier war aufgetaucht, hatte ihnen kurz die Sicht versperrt und war wieder verschwunden. Er war nicht daran gewöhnt, daß etwas so Großes sich so schnell bewegte. Jetzt war nur noch die wedelnde Schwanzspitze zu sehen.
Doch dann krachte der Schwanz mit einem lauten metallischen Knall gegen den Kühler des Explorers.
Und der Tyrannosaurier blieb stehen.
Aus dem Dschungel drang ein tiefes, verunsichertes Knurren.
Der fleischige Schwanz schwang wieder hin und her, doch jetzt vorsichtiger, tastender. Er streifte ein zweites Mal den Kühlergrill.
Das Laubwerk links von ihnen raschelte und bewegte sich, und der Schwanz war verschwunden.
Weil der Tyrannosaurier zurückkommt, schoß es Thorne durch den Kopf.
Im selben Moment brach der Saurier wieder aus dem Dschungel und lief auf das Auto zu, bis er direkt vor ihnen stand. Er knurrte noch einmal, ein tiefes Grollen, und bewegte leicht den Kopf von links nach rechts, um sich dieses fremde, neue Ding anzuschauen. Dann bückte er sich, und Thorne sah, daß der Tyrannosaurier etwas im Maul hatte, die Beine eines Tiers baumelten von seinen Kiefern herunter. Ein dichter Schwarm Fliegen umschwirrte seinen Kopf.
Eddie stöhnte. »O Scheiße.«
»Ruhe«, flüsterte Thorne.
Der Tyrannosaurier schnaubte und sah auf das Auto hinunter. Er bückte sich noch tiefer, schnaubte wiederholt und bewegte bei jedem Einatmen leicht den Kopf hin und her. Thorne erkannte, daß er den Kühlergrill beschnupperte. Dann hob er langsam den mächtigen Kopf, bis die Augen über der Motorhaube auftauchten. Er starrte sie durch die Windschutzscheibe an. Er blinzelte. Der Blick war kalt und reptilienartig.
Thorne hatte das deutliche Gefühl, daß der Tyrannosaurier sie ansah: Die Augen huschten von einer Person zur nächsten. Mit der stumpfen Schnauze stupste er den Explorer an, als wollte er dessen Gewicht prüfen, ihn als Gegner abschätzen.
Plötzlich trat er einen Schritt zurück und drehte sich um. Er hob den mächtigen Schwanz und kam rückwärts wieder auf sie zu. Sie hörten, wie der Schwanz über das Autodach schabte. Die Hinterläufe kamen immer näher …
Und dann setzte der Tyrannosaurier sich auf die Motorhaube, das Fahrzeug kippte unter dem enormen Gewicht nach vorne, die Stoßstange grub sich in die Erde. Zuerst bewegte er sich nicht, saß einfach nur da. Doch dann rutschte er mit schnellen Hüftbewegungen hin und her, so daß das Metall ächzte.
»Was macht der denn da?« sagte Eddie.
Der Tyrannosaurier stand wieder auf, die Schnauze des Autos federte hoch, und Thorne sah einen zähen, weißen Brei, der von der Motorhaube troff. Im selben Augenblick zog der Tyrannosaurier davon und verschwand auf dem Wildwechsel im Dschungel.
Als sie sich umdrehten, sahen sie ihn wieder auftauchen und über die Lichtung trotten. Er lief hinter dem Gemischtwarenladen vorbei, zwischen zwei der Hütten hindurch und verschwand dann aus ihrem Blickfeld.
Thorne sah Eddie an, der mit dem Kopf auf Malcolm deutete. Malcolm hatte sich nicht umgedreht, um dem davontrabenden Tyrannosaurier nachzusehen. Er saß noch immer da, mit angespanntem Körper, und starrte nach vorne. »Ian«, fragte Thorne. Er berührte ihn an der Schulter.
»Ist er weg?« fragte Malcolm.
»Ja. Er ist weg.«
Ian Malcolm entspannte sich. Er ließ die Schultern sinken und atmete langsam aus. Der Kopf sackte ihm auf die Brust. Dann atmete er tief ein und hob den Kopf wieder. »Eins müßt ihr zugeben«, sagte er. »So was sieht man nicht alle Tage.«
»Alles in Ordnung?« fragte Thorne.
»Ja, klar. Ich bin okay.« Malcolm legte sich die Hand auf die Brust, fühlte seinen Herzschlag. »Natürlich bin ich okay. Das war ja schließlich nur ein Kleiner.«
»Klein?« fragte Eddie. »Sie nennen dieses Ding klein –«
»Ja, für einen Tyrannosaurier schon. Die Weibchen sind noch ein ganzes Stück größer. Bei den Tyrannosauriern gibt es geschlechtsspezifischen Dimorphismus – die Weibchen sind größer als die Männchen. Und man geht allgemein davon aus, daß vorwiegend die Weibchen gejagt haben. Aber das finden wir ja vielleicht selber noch raus.«
»Moment mal«, sagte Eddie. »Was macht Sie so sicher, daß das ein Männchen war?«
Malcolm deutete zur Motorhaube, wo der weiße Brei einen stechenden Geruch verströmte. »Er hat sein Territorium mit einer Duftmarke gekennzeichnet.«
»Und? Vielleicht können Weibchen das auch –«
»Sehr wahrscheinlich, daß sie das können«, sagte Malcolm. »Aber anale Duftdrüsen findet man nur bei Männchen. Und sie haben ja gesehen, wie er es gemacht hat.«
Eddie starrte unglücklich die Motorhaube an. »Ich hoffe, wir kriegen das Zeug wieder weg«, sagte er. »Ich habe zwar ein paar Reinigungsmittel mitgebracht, aber – na ja, Dinomoschus habe ich nicht erwartet.«
Aus dem Funkgerät kam ein Klicken. »Dr. Thorne«, sagte Arby. »Dr. Thorne? Ist alles in Ordnung?«
»Ja, Arby. Vielen Dank.«
»Worauf warten Sie dann noch, Dr. Thorne? Haben Sie Dr. Levine denn nicht gesehen?«
»Noch nicht, nein.« Thorne griff nach seinem Sensor, aber der war auf den Boden gefallen. Er bückte sich, hob das Gerät auf. Levines Koordinaten hatten sich verändert. »Er bewegt sich …«
»Ich weiß, daß er sich bewegt, Dr. Thorne.«
»Ja, Arby«, sagte Thorne und gleich darauf: »Moment mal. Woher weißt du, daß er sich bewegt?«
»Weil ich ihn sehen kann«, sagte Arby. »Er fährt Fahrrad.«
Kelly kam in den vorderen Caravan und strich sich gähnend die Haare aus dem Gesicht. »Mit wem redest du denn, Arby?« Sie sah auf den Monitor und sagte: »He, nicht schlecht.«
»Ich bin ins Anlage-B-Netzwerk hineingekommen.«
»Was für ein Netzwerk?«
»Es ist ein Funknetz, Kel. Aus irgendeinem Grund funktioniert es noch.«
»Echt? Aber wie hast du –«
»Kinder«, sagte Thorne über Funk. »Wenn ihr nichts dagegen habt … Wir suchen Levine.«
Arby nahm das Mikro in die Hand. »Er fährt auf einem Fahrrad einen Dschungelpfad entlang. Der Pfad ist ziemlich steil und schmal. Ich glaube, er folgt demselben Pfad wie der Tyrannosaurier.«
»Wie der was?« fragte Kelly.
Thorne legte den Gang ein und fuhr vom Kraftwerk weg auf die Arbeitersiedlung zu. Er folgte dem Pfad, auf dem der Tyrannosaurier verschwunden war, vorbei an der Tankstelle und dann zwischen den Hütten hindurch. Der Wildwechsel war ziemlich breit und problemlos befahrbar.
»Die Kinder dürften nicht hiersein«, sagte Malcolm düster. »Es ist gefährlich.«
»Jetzt können wir nicht mehr viel dagegen tun«, entgegnete Thorne. Er drückte die Sprechtaste. »Arby, siehst du Levine noch?«
Das Auto holperte über ein ehemaliges Blumenbeet und fuhr an der Rückseite des Managerwohnhauses entlang. Es war ein großes zweistöckiges Gebäude im tropischen Kolonialstil mit einem rundumlaufenden Holzbalkon. Wie alle anderen Häuser war es überwuchert.
Das Funkgerät klickte. »Ja, Dr. Thorne. Ich sehe ihn.«
»Wo ist er?«
»Er verfolgt den Tyrannosaurier. Auf seinem Fahrrad.«
»Verfolgt den Tyrannosaurier«, seufzte Malcolm. »Ich hätte mich nie mit ihm einlassen sollen.«
»Dem können wir nur zustimmen«, entgegnete Thorne. Er beschleunigte und fuhr an einem Stück zerbröckelnder Steinmauer entlang, die offenbar die Grenze der Anlage markierte. Das Auto folgte dem Pfad und tauchte in den Dschungel ein.
Über Funk fragte Arby: »Sehen Sie ihn schon?«
»Noch nicht.«
Der Pfad wurde immer schmaler und schlängelte sich den Abhang hinunter. Nach einer Kurve versperrte ein umgestürzter Baum den Pfad. Der Baum war in der Mitte kahl, die Äste entrindet und abgeknickt, vermutlich, weil große Tiere immer wieder darübergestiegen waren.
Thorne hielt vor dem Baum an. Er stieg aus und ging zum Heck des Explorers.
»Doc«, sagte Eddie. »Lassen Sie mich das tun.«
»Nein«, sagte Thorne. »Wenn was passiert, bist du der einzige, der die Ausrüstung reparieren kann. Du bist wichtiger, vor allem jetzt, wo die Kinder da sind.«
Thorne stand vor der Heckklappe und hob das Motorrad von den Haken. Er stellte es ab, kontrollierte die Batterieladung und schob es vor das Auto. Zu Malcolm sagte er: »Geben Sie mir das Gewehr« und schulterte die Waffe.
Thorne nahm einen Kopfhörer vom Armaturenbrett und setzte ihn auf. Er schnallte sich den Batteriepack an den Gürtel und drückte sich das Mikrofon an die Wange. »Ihr fahrt zum Caravan zurück«, sagte er, »und kümmert euch um die Kinder.«
»Aber Doc …«, sagte Eddie.
»Tu’s einfach«, sagte Thorne und hob das Motorrad über den umgestürzten Baum. Er stellte es auf der anderen Seite ab und kletterte selbst über den Stamm. Dann sah er auf dem Stamm dasselbe stechend riechende Sekret wie auf dem Auto; er hatte sich die Hände damit beschmiert. Er warf Malcolm einen fragenden Blick zu.
»Territoriumsmarkierung«, sagte Malcolm.
»Na großartig«, sagte Thorne. »Einfach großartig.« Er wischte sich die Hände an der Hose ab.
Dann stieg er aufs Motorrad und fuhr davon.
Zweige klatschten Thorne gegen Schultern und Beine, als er hinter dem Tyrannosaurier den Pfad entlangfuhr. Das Tier war irgendwo vor ihm, aber sehen konnte er es nicht. Er fuhr schnell.
Im Kopfhörer knisterte es. Arby sagte: »Dr. Thorne. Ich kann Sie jetzt sehen.«
»Okay«, sagte Thorne.
Es knisterte noch einmal. »Aber Dr. Levine kann ich nicht mehr sehen«, sagte Arby. Er klang besorgt.
Das Elektromotorrad machte kaum ein Geräusch, vor allem bergab. Ein Stückchen weiter vorne gabelte sich der Wildwechsel. Thorne blieb stehen, bückte sich und betrachtete den schlammigen Pfad. Er entdeckte die Abdrücke des Tyrannosauriers, sie führten nach links. Und er sah die dünnen Reifenspuren des Fahrrads. Auch sie führten nach links.
Er nahm die linke Abzweigung, fuhr aber jetzt langsamer.
Nach zehn Metern kam Thorne an dem teilweise abgefressenen Bein eines Tiers vorbei, das neben dem Pfad lag. Das Bein befand sich offenbar schon länger da, es wimmelte von weißen Maden und Fliegen. In der Hitze des Vormittags war der beißende Geruch ekelerregend. Thorne fuhr weiter und sah kurz darauf den Schädel eines großen Tiers, an dem noch etwas Fleisch und Fetzen grüner Haut hingen. Auch der Schädel war mit Fliegen bedeckt.
Er sagte ins Mikro: »Ich komme an Kadaverteilen vorbei …«
Im Kopfhörer knisterte es. Dann hörte er Malcolm sagen: »Das habe ich befürchtet.«
»Was befürchtet?«
»Daß da irgendwo ein Nest ist«, erwiderte Malcolm. »Haben Sie den Kadaver bemerkt, den der Tyrannosaurier im Maul hatte? Er hat ihn offensichtlich irgendwo aufgelesen, aber nicht gefressen. Gut möglich, daß er Fressen mit nach Hause genommen hat, in ein Nest.«
»Ein Tyrannosauriernest …«, sagte Thorne.
»Ich wäre vorsichtig«, sagte Malcolm.
Thorne kuppelte aus und ließ das Motorrad den Rest des Hügels hinunterrollen. Als das Terrain wieder eben wurde, stieg er ab. Er spürte, wie die Erde unter seinen Füßen vibrierte, und aus dem Gebüsch vor sich hörte er ein tiefes Knurren, wie von einer großen Dschungelkatze. Thorne sah sich um. Von Levines Fahrrad war nichts zu sehen.
Thorne nahm das Gewehr von der Schulter und packte es mit schweißfeuchten Händen. Dann hörte er noch einmal das Knurren, ansteigend und wieder fallend. Ein eigenartiges Geräusch. Thorne brauchte einige Augenblicke, bis er erkannte, was so sonderbar daran war.
Das Knurren kam nicht nur aus einer Kehle: Was sich da hinter diesem Gebüsch direkt vor ihm verbarg, mußte mehr sein als nur ein großes Tier.
Thorne bückte sich, riß eine Handvoll Gras aus und warf es in die Luft. Das Gras wehte ihm gegen die Beine, er stand also gegen den Wind. Er zwängte sich ins Gebüsch.
Die riesigen Farne, die ihn einschlossen, standen sehr dicht, aber ein Stückchen weiter vorne sah er Sonnenlicht durchscheinen, dahinter mußte also eine Lichtung liegen. Das Knurren war jetzt sehr laut. Und es gab auch noch ein anderes Geräusch – ein merkwürdiges Quieken. Es war schrill, und im ersten Augenblick klang es fast mechanisch, wie das Quietschen eines Rads.
Thorne zögerte. Dann schob er sehr langsam einen Wedel beiseite.
Und starrte.